von MartinC » 6. Aug 2024, 17:40
Ich fürchte auch, Du hattest meine Anmerkung völlig falsch verstanden, nämlich als eine Art Kritik an Deiner Vorgehensweise. Nichts läge mir ferner, im Gegenteil, es ist eine absolut faszinierende Strategie und es ist bedauerlich, daß man jeden Künstler nur einmal für sich "entdecken" kann, und dann kein zweites Mal mit einer anderen Strategie.
Meine Anmerkung bezog sich allein darauf, daß es verblüffend ist, dieses spezielle Album so zu sehen und daher zu einem anderen Urteil zu kommen, und daß der Großteil der Hörer das so gar nicht erlebt hat (oder nachträglich erleben kann).
Die Einschätzung eines Kunstwerks ist *immer* kontextabhängig, es gibt keinen absoluten Index, mit dem man irgendwas einschätzen könnte. Die Kunstgeschichte ist voller Künstler, die zu ihrer Zeit hochangesehen waren und die Menschenmassen begeisterten, und die Jahrhunderte später nur noch als Mittelmaß und Fußnote betrachtet werden. Salieri war in seiner Zeit an der Spitze, nicht Mozart. Heute hören ihn nur noch ein paar Hardcore Klassik-Fans. Van Gogh hingegen war ein erfolgloser Tagelöhner, dessen Bilder niemand haben wollte. Damals...
Aber die *Kunst* selber hat sich dabei ja nie verändert. Salieris Partituren sind nicht heute plötzlich schlechter geworden, die Noten sind die selben. Und die Bilder von Van Gogh haben sich auch nicht wirklich verändert (ein paar Farbtöne, durch die lange Zeit). Was sich verändert hat, sind die *Zuhörer* und die *Zuschauer*.
Und daher läßt sich die Qualität auch eines Albums nie als absoluter Wert definieren, denn die Art und Weise (und Reihenfolge) in der es entdeckt und wahrgenommen wird, hat einen elementaren Einfluß darauf, wie man es beurteilt. Man kann "Wissen" nicht zurückziehen, wenn man sich ein Album *mit* einem Wissen und einer Erfahrung anhört, wird man nie mehr erfahren (können) wie sich das Album *ohne* dieses Wissen angefühlt hätte.
Sorry, das war verschwurbelt... ich mach mal ein Beispiel. Jemand, der noch niemals die Beatles gehört hat, hört sich "A Hard Day's Night" erst nach "Rubber Soul" an, und kommt zum Urteil, daß es deutlich eindimensionaler, simpler und irgendwie blasser ist. Und diese Einschätzung beißt sich radikal mit jedem anderen, der die Alben womöglich sogar 1:1 erlebt hat, als sie rauskamen, und für den "A Hard Day's Night" eine absolute Revolution in Entwicklung der Band war, und "Rubber Soul" später dann sogar nochmal etwa mehr... aber bei weitem nicht mehr so fundamental neu wie die Sprünge im Frühwerk. Das hat alles nichts mit "richtig" und "falsch" zu tun, beide Hörer kamen nur unter komplett unterschiedlichen Voraussetzungen zu komplett unterschiedlichen Urteilen.
Eine Sache fand ich schon immer spannend, und sie gehört quasi dazu. Ich kenne zwei Bands, bei denen ein Album radikal unterschiedlich eingeschätzt wird, je nachdem, ob man alter oder neuer Fan ist. "Jazz" von Queen, und "And Then There Were Three" von Genesis.
Die Mehrzahl der alten Fans, die die Bands begleitet haben und alle Alben beim Erscheinen kauften, rauchen diese Platten in der Pfeife. Die Mehrzahl der jungen Fans heute (die aber ausdrücklich *nur* die Frühphase der Bands mögen) finden die beiden Platten eher gut. Woher kommt das?
Es kommt von der unterschiedlichen Perspektive her, ob man die Bands "vorwärts" (mit der Zeit) oder "rückwärts" retrospektiv erlebt hat. Beide Alben markieren eine Phase der Bands, wo aus dem Frühwerk die Luft raus war und sie anfingen, sich selbst zu kopieren. Für die Zeitzeugen war dies ein gigantischer Qualitätsverlust und die Platten somit der Punkt, wo ihnen die Musik nichts mehr taugte. Ich bekenne mich schuldig, ich war und bin ein Riesenfan (ausschließlich) der frühen Queen, ich liebte und liebe ihre ersten 6 Alben, "Jazz" hatte ich mir dann am Erscheinungstag gekauft und war bitter enttäuscht... und hatte mir ab da nie mehr ein Album von ihnen gekauft.
Jungen Fans heute ist das aber völlig schnuppe. Wer nur das Frühwerk mag, für den ist "Jazz" heute das letzte "große alte Werk", wo die frühen Tugenden nach da waren. Gut, vielleicht nicht ganz so toll wie auf den Alben 1-6, aber eben noch da. Der Bruch kam für sie klar *nach* diesem Album, während er für die zeitgenössischen Fans mit, bzw. dann *vor* diesem Album passierte.
"Recht" hat keiner der beiden, oder besser gesagt haben beide Recht - in ihrer jeweiligen Zeitlinie. Mylène hat dieses Phänomen nicht, da sie kein Album auf der Kippe veröffentlicht hat. Es gibt ihr Frühwerk, die ersten 3 Alben, dann verschwand sie auf Jahre vom Erdboden in das verschneiten Bergdorf, und dann kam sie komplett neu selbst-erfunden mit einem komplett neuen und anderen Album zurück. Es gab alte Fans, die an der Stelle vergrätzt wurden, aber der Bruch fand in den musiklosen Jahren dazwischen statt und nicht mit/auf einem Album selbst.
Ich fürchte auch, Du hattest meine Anmerkung völlig falsch verstanden, nämlich als eine Art Kritik an Deiner Vorgehensweise. Nichts läge mir ferner, im Gegenteil, es ist eine absolut faszinierende Strategie und es ist bedauerlich, daß man jeden Künstler nur einmal für sich "entdecken" kann, und dann kein zweites Mal mit einer anderen Strategie.
Meine Anmerkung bezog sich allein darauf, daß es verblüffend ist, dieses spezielle Album so zu sehen und daher zu einem anderen Urteil zu kommen, und daß der Großteil der Hörer das so gar nicht erlebt hat (oder nachträglich erleben kann).
Die Einschätzung eines Kunstwerks ist *immer* kontextabhängig, es gibt keinen absoluten Index, mit dem man irgendwas einschätzen könnte. Die Kunstgeschichte ist voller Künstler, die zu ihrer Zeit hochangesehen waren und die Menschenmassen begeisterten, und die Jahrhunderte später nur noch als Mittelmaß und Fußnote betrachtet werden. Salieri war in seiner Zeit an der Spitze, nicht Mozart. Heute hören ihn nur noch ein paar Hardcore Klassik-Fans. Van Gogh hingegen war ein erfolgloser Tagelöhner, dessen Bilder niemand haben wollte. Damals...
Aber die *Kunst* selber hat sich dabei ja nie verändert. Salieris Partituren sind nicht heute plötzlich schlechter geworden, die Noten sind die selben. Und die Bilder von Van Gogh haben sich auch nicht wirklich verändert (ein paar Farbtöne, durch die lange Zeit). Was sich verändert hat, sind die *Zuhörer* und die *Zuschauer*.
Und daher läßt sich die Qualität auch eines Albums nie als absoluter Wert definieren, denn die Art und Weise (und Reihenfolge) in der es entdeckt und wahrgenommen wird, hat einen elementaren Einfluß darauf, wie man es beurteilt. Man kann "Wissen" nicht zurückziehen, wenn man sich ein Album *mit* einem Wissen und einer Erfahrung anhört, wird man nie mehr erfahren (können) wie sich das Album *ohne* dieses Wissen angefühlt hätte.
Sorry, das war verschwurbelt... ich mach mal ein Beispiel. Jemand, der noch niemals die Beatles gehört hat, hört sich "A Hard Day's Night" erst nach "Rubber Soul" an, und kommt zum Urteil, daß es deutlich eindimensionaler, simpler und irgendwie blasser ist. Und diese Einschätzung beißt sich radikal mit jedem anderen, der die Alben womöglich sogar 1:1 erlebt hat, als sie rauskamen, und für den "A Hard Day's Night" eine absolute Revolution in Entwicklung der Band war, und "Rubber Soul" später dann sogar nochmal etwa mehr... aber bei weitem nicht mehr so fundamental neu wie die Sprünge im Frühwerk. Das hat alles nichts mit "richtig" und "falsch" zu tun, beide Hörer kamen nur unter komplett unterschiedlichen Voraussetzungen zu komplett unterschiedlichen Urteilen.
Eine Sache fand ich schon immer spannend, und sie gehört quasi dazu. Ich kenne zwei Bands, bei denen ein Album radikal unterschiedlich eingeschätzt wird, je nachdem, ob man alter oder neuer Fan ist. "Jazz" von Queen, und "And Then There Were Three" von Genesis.
Die Mehrzahl der alten Fans, die die Bands begleitet haben und alle Alben beim Erscheinen kauften, rauchen diese Platten in der Pfeife. Die Mehrzahl der jungen Fans heute (die aber ausdrücklich *nur* die Frühphase der Bands mögen) finden die beiden Platten eher gut. Woher kommt das?
Es kommt von der unterschiedlichen Perspektive her, ob man die Bands "vorwärts" (mit der Zeit) oder "rückwärts" retrospektiv erlebt hat. Beide Alben markieren eine Phase der Bands, wo aus dem Frühwerk die Luft raus war und sie anfingen, sich selbst zu kopieren. Für die Zeitzeugen war dies ein gigantischer Qualitätsverlust und die Platten somit der Punkt, wo ihnen die Musik nichts mehr taugte. Ich bekenne mich schuldig, ich war und bin ein Riesenfan (ausschließlich) der frühen Queen, ich liebte und liebe ihre ersten 6 Alben, "Jazz" hatte ich mir dann am Erscheinungstag gekauft und war bitter enttäuscht... und hatte mir ab da nie mehr ein Album von ihnen gekauft.
Jungen Fans heute ist das aber völlig schnuppe. Wer nur das Frühwerk mag, für den ist "Jazz" heute das letzte "große alte Werk", wo die frühen Tugenden nach da waren. Gut, vielleicht nicht ganz so toll wie auf den Alben 1-6, aber eben noch da. Der Bruch kam für sie klar *nach* diesem Album, während er für die zeitgenössischen Fans mit, bzw. dann *vor* diesem Album passierte.
"Recht" hat keiner der beiden, oder besser gesagt haben beide Recht - in ihrer jeweiligen Zeitlinie. Mylène hat dieses Phänomen nicht, da sie kein Album auf der Kippe veröffentlicht hat. Es gibt ihr Frühwerk, die ersten 3 Alben, dann verschwand sie auf Jahre vom Erdboden in das verschneiten Bergdorf, und dann kam sie komplett neu selbst-erfunden mit einem komplett neuen und anderen Album zurück. Es gab alte Fans, die an der Stelle vergrätzt wurden, aber der Bruch fand in den musiklosen Jahren dazwischen statt und nicht mit/auf einem Album selbst.