OneHitWonder hat geschrieben: 2. Jul 2023, 23:40
werde nach Rückkehr, wenn ich wieder eine richtige Tastatur unter den Fingern habe noch etwas mehr Details schreiben
Soo, wieder zuhause angekommen. Sehen wir es positiv: Wir haben zwar keine Erinnerungen an Konzerte im Gepäck, aber die Vorfreude wieder mitgebracht.
Abgesehen davon haben wir das Beste draus gemacht, uns fünf schöne Tage in Paris gegönnt und es u.a. genossen am Sonntagnachmittag, wo man normalerweise mit Menschenmassen rechnen würde, ganz entspannt auf dem Eiffelturm herumzuschlendern.
Als ich am Dienstag vor der Abreise von dem Vorfall in Nanterre hörte dachte ich schon oh-oh, nicht gut. Natürlich mit Blick auf das, was passiert ist. Aber auch ganz eigennützig mit Sorge darum, wie es sich entwickeln könnte und was das für uns bedeuten könnte. Ein Szenario war, mit 2005 im Hinterkopf, dass die Unruhen St. Denis erreichen, man sich dort nachts nicht mehr raus trauen kann und es eben im Extremfall zur Absage kommt.
Was ich tatsächlich erlebt habe, war anders. Wir waren von Mittwoch bis heute im Novotel am Stade de France. Also innerhalb der ersten Sicherheitszone, nach den Taschenkontrollen. Sind sowohl Mi/Do, als auch Do/Fr Nacht kurz nach 0 Uhr aus der Stadt zurückgekommen. Man hörte jeweils in weiterer Ferne "Feuerwerksgeräusche" und sah einmal Rauch. Allerdings beides in Richtung Nordost/Ost, in Richtung A1, Le Bourget. Aus dieser Ecke wurden am nächsten Morgen eigentlich keine Unruhen gemeldet. Es gab in beiden Nächten keine erwähnenswerte Polizeipräsenz oder andere Auffälligkeiten rund ums Stadion.
Freitag früh waren die Zufahrtswege zum Stadion abgesperrt und somit die "Taschenkontrollzone" eingerichtet. Während des Frühstücks sind zwei Polizisten entspannt durchs Hotel geschlendert und nach 5 Minuten wieder raus. So nach dem Motto "gesichert!". Gingen offenbar innerhalb der Zone von Gebäude zu Gebäude.
Wir sind noch kurz runter zur RER B Station, ein paar Flaschen Wasser und Bananen fürs Anstehen holen. Alles entspannt, auf dem Rückweg zum Stadion halt die Kontrolle der Bananen.
Auf dem Gelände rund ums Stadion herrschte die von früheren Konzerten bekannte, friedliche Begeisterung. Das Einzige was diese etwas trübte, waren die nach und nach immer zahlreicher auftauchenden Polizeikräfte. Das war nicht nur normale Gendarmerie sondern mit automatischen Waffen, massivem Munitionsvorrat und Tränengasgranaten behängte Police National. Eher in "Ritterrüstung light", als Uniformen.
Ok, wenn es unserer Sicherheit dient, sei es so. Man wusste von der Krisensitzung um 11:00 und als gegen 13:30 noch Business as usual herrschte beschlossen wir, uns Richtung Porte R zu begeben. Auf dem Weg dorthin kamen wir auf der Nordseite des Stadions, eine Ecke vor Porte R an einer beeindruckenden Reihe Mannschaftswagen der Gendarmerie vorbei. Aufgrund der Menge hätte ich ohne besseres Wissen auf ein kritisches Fußballspiel getippt.
Nach 15:30 verstummten dann plötzlich drin die Proben, es kam jemand an den Zaun und Unruhe kam auf. Etwas verzögert machte die inzwischen auch Online verbreitete Nachricht der Absage die Runde. Zeitgleich kam der ganze Tross alter Renault Mannschaftswagen, viele mehr als wir zuvor schon hinten gesehen hatten, dieselstinkend um die Ecke und hat sich in regelmäßigen Abständen platziert.
Müssen wir vor etwas beschützt werden? Oder werden wir eingekesselt? Für beides sah ich keinen Grund. Da man nix genaues wusste, ich außer der Polizei keine Gefahr erkannte und vermeiden wollte womöglich bis zu unserer nicht bestellten Rettung dort festgesetzt zu werden, haben wir uns nach kurzer Rückversicherung, dass wirklich abgesagt ist um besagte Ecke, hinten rum verdrückt, wo jetzt ja keine Polizei mehr war.
Zurück auf der Ostseite kamen sie uns dann wieder entgegen. Dazu die weiterhin zu Fuß, nun Teils in Kolonne und gefühltem Gleichschritt patrouillierende Police National.
Als jemand, der gerne über die Situation im Bilde ist fragt man sich: Was ist die Bedrohung? Wer ist der Feind? Wo ist der Feind? Was tun? Um das zu klären setzten wir uns erstmal an einen freien Tisch des Lokals neben dem Hotel, sozusagen "hinter den Linien" und beratschlagten bei einem Glas Rosé und einem DJ, der Mylène gespielt hat. Wobei einem letzteres plötzlich irgendwie unpassend vorkam.
Eine halbe Stunde später, bei praktisch unveränderter Situation war zumindest realisiert, dass die Sache hier am Stadion gegessen ist.

Passé...
Also auf zur RER und ab in die Stadt, zu mehr Wein... Der Vollständigkeit halber: Wir konnten uns jederzeit frei bewegen. Das lag vermutlich aber auch an der Richtung unserer Bewegung. Gegen Abend hat MartinC berichtet, dass sein Versuch bis ans Stadion vorzudringend von militärähnlichen Kräften mit automatischen Waffen erfolgreich verhindert wurde. Ich vermute mal, dass er keinen großen Widerstand geleistet hat und es auf ein Feuergefecht nicht ankommen ließ.
Da kam nochmal der Gedanke auf: Was ist da wirklich los? Womit rechnen die? Kommen wir wieder zurück zum Hotel, innerhalb der Sicherheitszone? Spannende Frage, denn die Zimmerkarte ist neutral, ohne Novotel Logo und weitere Beweise habe ich nicht dabei. Egal, draußen sind wir eh schon. Also kein Grund zur Hektik.
Als wir nach 22:30 wieder ans Stadion kamen: Überraschung: Alle Absperrungen weg, keine Polizei mehr. Auch ein neugieriger Weise gemachter Spaziergang rund um Stadion zeigt nix anderes.
Damit fing ich wieder an, über o.g. drei Fragen zu grübeln. Was war die Bedrohung? Es müssen wohl die Mylène Fans gewesen sein. Es wollte uns keiner vor was beschützen. Die "gewählten Vertreter" in St. Denis, wie ich es an einer Stelle so schön gelesen habe, haben offenbar beschlossen, dass diese Großveranstaltung das Letzte ist, was sie jetzt brauchen können und sie sich vom Hals geschafft. Aus Angst vor Krawallen der enttäuschten Fans hat man offenbar vor der Bekanntgabe (Krisensitzung war ja bereits um 11:00) schon mal ordentlich Polizei zusammengezogen. Und als alle da waren (ja, man hörte in den 2 Stunden, die wir anstanden viele Sirenen), gab man es bekannt.
Welchen Teil von "Wie ticken Mylène Farmer Fans" hat man da nicht verstanden?
- Mylène Fans sind im Umfeld eines Konzerts m.E. welche der friedliebendsten Menschen des Planeten.
- Man braucht sie nicht voreinander zu beschützen, wie Fußball Fans, da es keine zwei Lager gibt.
- Das verstanden, sollte man auch erkennen, dass diese Konzerte ein deutlich geringeres Polizeiaufgebot binden als andere Veranstaltungen.
- Ich kann jeden verstehen, der das Aufgebot mir dem das Stade de France nach der Absage umkreist wurde als unpassend empfindet.
Ein Gedankenspiel: Denkt mal an Corona zurück. Zuerst abgesagt: Kultur. Zuletzt: Fußball. Beim Rückweg zur sogenannten Normalität das gleiche Spiel umgekehrt. Die Frage: "Wäre ein Länderspiel in dieser Situation abgesagt worden?" muss erlaubt sein. Ich glaube, nein. Mit dem Argument: Die Fans sind schon auf der Anreise und es wäre kritisch, das zum jetzigen Zeitpunkt abzusagen.
Da hat man sich dann wohl doch erinnert, dass die Mylène Fans friedlicher sind, man sich das bei denen durchaus trauen kann und schlicht und einfach Prioritäten gesetzt.
Falls hier jemand zu einem anderen Schluss kommt, respektiere ich den. Aber das ist meiner. Ein die Absage begründendes Sicherheitsrisiko sehe ich nicht.
Das einzige echte Argument, dass mir ein Stück weit einleuchtet ist, dass eine Großveranstaltung Personal bindet und dieses anderswo fehlt. Aber, siehe oben. Und:
In der "Welt" war zu lesen, dass Samstag gegen 17:00 die Champs-Élysées geräumt wurde. "Vermeidung von Gruppenbildung". Also, um sicher zu gehen, dass da keine Scheibe zu Bruch geht, und für den offenbar als kulturell wertvoller eingestuften "Carnaval Tropical de Paris" am Sonntag alles Pico Bello ist.
Da waren insgesamt glaub' ich um die 300.000 Leute. Also fast das Vierfache einer Stade de France Füllung.
Sorry, habe mich in Rage geschrieben. Aber ich gehöre nicht zu denen, die sich sowas schönreden nach dem Motto: "Es war doch alles nur zu unserem Besten". Nein, darum ging es m.E. nie. Es wurden Prioritäten gesetzt, Mylène und ihre Fans hatten die Falsche und die Obrigkeit vielleicht einfach nur den falschen Musikgeschmack.
Ach ja: Hoffentlich hat es dem Ehepaar Macron am Mittwoch bei Elton John gefallen. Schlagzeile in einigen Medien: "Frankreich brennt und der Präsident geht zum Konzert". Kein Problem, auch ihm sei seine Freizeit zugestanden. Aber...
Ich schreibe übrigens bewusst nichts zu den politischen und gesellschaftlichen Hintergründen. Nicht aus Ignoranz, sondern weil ich hier eher im näheren Umfeld des Konzerts bleiben möchte. Sollten wir, falls Vertiefung gewünscht ist dann evtl. in einen anderen Thread auslagern(?)