Wir sind (nach einer streikbedingt rumpeligen Zugfahrt am Samstag) aus Paris zurück, und ich denke, das ist jetzt eine Gelegenheit, auch hier einmal über ein Projekt zu schreiben, in das ich seit inzwischen 13 Jahren sehr eng involviert bin. Ein paarmal ist ja schon das Stichwort "The Musical Box" bzw. "TMB" gefallen, und hier kommt jetzt die Geschichte dazu...

Ich hatte vor zwei Jahren in Jennys Forum schon einmal darüber erzählt, bzw. eine Geschichte mit dem Titel "Von Wölfen und Lämmern", in der ich über eine Reihe von beinahe gespenstischen Paralleln zwischen dem Film "Giorgino" und der "The Lamb lies down on Broadway" Tour von Genesis aus den Jahren 1974/75 schrieb. Das ist inzwischen im digitalen Nirvana verschwunden (und dummerweise hab ich selbst keine Kopie der Endversion mehr, aber Genesis haben ihren Kram ja auch nie richtig dokumentiert...).
Nun sind TMB noch einmal mit der (früheren) Produktion "Selling England by the Pound" in Europa, die sie seit 2007 nicht mehr gespielt haben und die jetzt noch einmal heftig überarbeitet und authentischer als jemals zuvor aufgeführt wird.
Nun... "was soll das Ganze, und warum macht er so ein Aufhebens drum"...

Peter Gabriel war 1967 bis 1975 Sänger und kreativer Kopf der englischen Band Genesis, die sich nach seinem Ausstieg (und mit Phil Collins als neuem Sänger) dann über die Jahre stetig in eine erfolgreiche kommerzielle Popband verwandelte. Während Gabriels Zeit spielten Genesis aber noch bizarres und groteskes Musiktheater mit aberwitzigen literarischen, historischen und metaphysischen Bezügen.
Als ich um 2004 herum anfing, Farmer zu "kapieren" (zuvor hatte ich sie 20 Jahre lang zwar "gekannt", aber ignoriert) verblüffte es mich, wie sehr mich ihre künstlerischen Ansätze an den ganz jungen Gabriel erinnerten. Musikalisch/stilistisch zwei Welten, aber beide jonglierten virtuos mit literarischen Motiven, doppelten Böden, phonetischen Lautmalereien, und beide schufen eine "Distanz" zwischen sich und dem Publikum. Gabriel lief in wilden Masken und Kostümen über die Bühne, wie ein mittelalterlicher Jester, und irritierte und verstörte sein Publikum, das sich nie ganz sicher sein konnte, was und wann er ernst meint und wann er einem eine lange Nase dreht. Das geschah in einem ganz anderen Stil (mit viel mehr Humor, Satire und Sarkasmus), das Grundprinzip, sein Publikum zu verwirren und mit Rätseln zu verunsichern, hat aber große Ähnlichkeit.
Die größte Parallele betrifft aber den grundlegenden visuellen Ansatz und ist etwas, das ich gerne "kontrapunktische Bildsprache" nenne. Rockshows zerfallen zumeist in nur zwei Kategorien: "Illustration" und "Ablenkung". Im ersten Fall werden einfach Bilder aus den Liedern dargestellt - Kate Bush machte das 1979 in Perfektion und Peter Gabriel nach dem Ausstieg bei Genesis auf seinen späteren Solo-Touren ebenso. "Ablenkung" sind dann all diese Laser-Shows und Lichtgewitter, die im Grunde überhaupt nichts mit der Musik zu tun haben, sondern die Zuschauer einfach dort unterhalten, wo es die Musik allein nicht mehr täte...
Was Gabriel aber zwischen 1972-1975 machte, ist etwas ganz anderes: Die Musik von Genesis war voller Rätsel, und die waren überall verstreut: in den Texten, als Prosa auf den LP-Innenhüllen, auf den LP-Covern, in seinen bizarren Ansagen, in seinen Masken und Kostümen und in den Dias, die bei den Konzerten als Backdrop zu sehen waren. Jeder Puzzlestein für sich schien oft einfach nur kryptisch, unverständlich und zusammenhanglos. Aber alles zusammen... und es macht plötzlich "Peng". Genau das meine ich mit "Kontrapunkt", die visuellen Elemente illustrieren nicht den Texten hinterher, sondern jedes Element hat zunächst sein Eigenleben, und erst wenn man die Linien zusammenfügt, lösen sich die Rätsel plötzlich auf.
Nun... kommt Euch das irgendwie bekannt vor? Ein Text, den man nicht/kaum versteht. Eine Musik, die kaum dazu paßt. Ein Video, das scheinbar nix mit dem Lied zu tun hat. Ein Bühnenbild, das nochmal andere Bilder malt. Und dann alles zusammen und plötzlich... Peng? Ich kenne bei allen ihren Unterschieden keine anderen KünstlerInnen als den (jungen) Gabriel und (ihr Leben lang) Farmer, die dieses hochkomplexe Spiel so virtuos und konsequent beherrsch(t)en.
Und noch etwas: Genesis (damals) und Farmer (heute) beauftragten keine Special-Effects Firmen, "irgendeine" Lightshow zu machen, mit dem Kram, der sowieso grade auf dem Markt verfügbar ist, sondern sie erschufen ihre Bilder "im Kopf" - und holten sich dann die Künstler und Techniker, die ihnen zu ihren "Bildern" die Apparaturen bauten, um sie zu erzeugen.
Die frühen Konzerte von Genesis wurden niemals authentisch gefilmt, es existiert fragmentarische Footage von europäischen Fernsehsendern, einige Amateur 8mm Filme, und - das qualitativ beste Dokument - ein Film mit Material der "Selling England" Tour, das im Filmstudio in Shepperton bei London gefilmt und künstlich mit Playback-Publikum versehen wurde. Der oft kopierte (aber erst kürzlich auch legal veröffentlichte) Film hat bei vielen den Eindruck erweckt, das "echte" Konzert zu zeigen, tatsächlich sind es aber unter Studiobedingungen visuell stark reduzierte Aufnahmen, die nur die kameratauglichen Elemente zeigen. Und Genesis selbst verwarfen ihn, da er eben *nicht* wirklich das Konzert zeigte.
Hier ist ein Ausschnitt von diesem Film:
Und nun zu meiner Geschichte... Eigentlich hatte ich mit Genesis nicht viel am Hut, meine Wurzeln liegen einmal in den Sixties und schließlich im Post-Punk Underground der späten 70er. Den frühen Solo-Gabriel fand ich damals interessant, Genesis kannte ich aber schon nur noch aus der Retrospektive, und dann verlor ich beide Ende der 80er für viele Jahre aus den Augen.
Anfang 2001 lernte ich einen Verrückten aus Kanada kennen, Serge Morissette aus Montreal, der sein Leben lang von den Bühnenshows der frühen Genesis besessen ist. Serge wurde Regisseur und Mitbegründer von "The Musical Box" und begann Anfang der 90er, die alten Bühnenshows in jedem noch so kleinen Detail zu rekonstruieren - zunächst die "Selling England by the Pound" Tour von 1973/74, später auch die frühere "Foxtrot" Tour von 1973 und schließlich die titanische Aufgabe von "The Lamb lies down on Broadway" 1974/75.
Auch wenn es technisch natürlich der Fall ist, wäre es irreführend, TMB nur als Cover- oder Tribute-Band zu bezeichnen, denn es ist eine kompromißlos exakte Rekonstruktion der historischen Konzerte, vergleichbar etwa mit dem Globe-Theatre in London, wo Shakespeare exakt wie im Original vor 400 Jahren aufgeführt wird, damit die Zuschauer authentisch erleben können, wie es genau gewirkt haben muß, als die Stücke zum ersten Mal gespielt wurden.
In einer jahrelangen unvorstellbaren Detektiv- und Archäologiearbeit wurden die historischen Musik-Instrumente besorgt, zum Teil mußten einige sogar nachgebaut werden, weil Genesis individuelle Einzelanfertigungen hatten. Die bizarren Theaterkostüme und Masken von Gabriel (die Originale sind heute verschollen) wurden akribisch nachgefertigt, die Kulissen und Bühnenaufbauten auf jede Schraube und jeden Nagel präzise nachgebaut und seit Jahrzehnten verschollene und vergessene Geräte wiederbeschafft. Von einem speziellen Flammenprojektor aus Italien z.B. existieren heute auf der ganzen Welt nur noch zwei funktionierende Exemplare, und TMB haben beide Originale als Dauerleihgabe aus einem Theatermuseum.
Da die exakte Wiederaufführung dieser Konzerte als "Choreographie" wie eine Theaterinszenierung geschützt ist, benötigen TMB die Aufführungsrechte von Genesis & Peter Gabriel und arbeiten eng mit ihnen zusammen - so hatten TMB zum Beispiel Zugriff auf die Mehrspur-Masterbänder der alten LPs, um die Partituren (die damals natürlich nie aufgeschrieben wurden) exakt zu transkripieren, und sie bekamen die vollständigen Originaldias, die Genesis damals zur Lightshow einsetzten. Viele davon, vor allem die 1100 "Lamb" Dias, retteten sie so für die Nachwelt, dank einem alten Roadie, der noch wußte, wo man sie auffinden konnte. Und sie stöberten weltweit alle weiteren noch lebenden Künstler, Techniker und Crewmitglieder auf, um zerstörte oder verschollene Geräte, die für Genesis gebaut wurden, anhand der alten Pläne und Blaupausen noch einmal exakt nachbauen zu können.
Auf der ersten TMB Tour in Europa brachte Peter Gabriel 2002 seine beiden Töchter mit auf das Konzert in Bristol, um ihnen zu zeigen, was ihr Vater damals gemacht hatte... und Melanie Gabriel bekannte hinterher offen, daß sie - trotz aller Fotos und Filmfragmente - erst dort wirklich realisierte, wie "weird" und außergewöhnlich ihr Vater wirklich gewesen war, als sie selbst noch gar nicht geboren war... und Phil Collins, der "Lamb" ein Leben lang geringschätzte, sah das Konzert (zum ersten Mal in seinem Leben aus Publikumsperspektive) mit seiner Frau und seiner Tochter 2005 in Genf, kam für die Zugabe selbst ans Schlagzeug und änderte in dieser Nacht seine Einstellung zu dem Werk fundamental, nämlich als ein geniales visuelles Werk dieser Ära, auf das er als Mit-Erschaffer seitdem Stolz ist.
Nun spielen TMB also, nach 7 Jahren, noch einmal "Selling England by the Pound" in Deutschland, die exakte Rekonstruktion der Konzerte, die Genesis (in Deutschland im September 1973 und Januar 1974) gespielt hatten.
Ich bin natürlich, als langjähriger Mitarbeiter, so befangen wie man nur befangen sein kann, aber das "Selling England" Konzert im Olympia vorgestern hat mich nach all den Jahren wieder so geflasht wie mein erstes in der Royal Albert Hall 2002 - und daß da wohl inzwischen roundabout eine dreistellige Zahl dazwischen war, tut dem keinen Abbruch. Die visuelle Wirkung in Verbindung mit der Musik auf allen Originalinstrumenten und -Maschinen ist eine Urgewalt und die TMB Konzerte eine tiefe Verbeugung vor den Genies, die das vor 40 Jahren geschrieben, konstruiert und aufgeführt haben. Deshalb kann ich es nur über den Klee loben, nicht weil ich Teil des Projekts bin, sondern weil ich überhaupt erst Teil des Projekts geworden bin, *weil* es so genial ist...
Inzwischen haben wir sogar einen kleinen "Kulturaustausch", drei Leute aus dem inneren TMB Kreis hab ich inzwischen mit Farmer angefixt (zwei haben sie sogar 2013 live gesehen), umgekehrt war unser Bercy hier vor zwei Jahren bei "Lamb" und kommt jetzt wieder zu "Selling" nach Frankfurt. Und Erzengel kennt sie wohl auch...
Ich fürchte, Thomas werde ich nicht überreden können, nach Bremen zu fahren... Hamburg wird diesmal leider nicht gespielt, sonst waren TMB immer im CCH. Ich bin auch leider selbst nicht mit in Bremen, sonst hätte ich vorher schon den Versuch unternommen, Dich mit allen Mitteln hinzulocken...

Das sind die Termine, die von Deutschland aus erreichbar wären, bis auf Basel ist alles mit Theaterbestuhlung.
23.10.14 Strasbourg - Palais de Congres
24.10.14 Amneville - Galaxie
30.10.14 Stuttgart - Liederhalle (Hegelsaal)
31.10.14 Bremen - Glocke Theater
01.11.14 Frankfurt - Jahrhunderthalle
07.11.14 Chemnitz - Stadthalle
08.11.14 Essen - Grugahalle
23.11.14 Basel - Z7 (unbestuhlt)
Ich bin selbst in Strasbourg, Amneville, Stuttgart, Frankfurt, Essen und eventuell dann noch in Basel. Falls jemand zu einem dieser Termine fahren sollte, gebt mir bitte per PM Bescheid, daß man sich dort sehen kann...
Tickets gibt es bei den jeweiligen großen Landessystemen, für die deutschen Termine gibt es auch hübsche nostalgische Hardtickets direkt beim Veranstalter
Cheers,
MartinC