Hier noch meine Eindrücke vom 22.6.
Das dritte Konzert für mich, das letzte der neun in der La Défense Arena in Nanterre. Der letzte Auftritt wurde ja auf den Plakaten als „ultime show“ angekündigt, was natürlich einfach Abschlusskonzert bedeuten kann, aber auch den allerletzten Auftritt überhaupt bezeichnen könnte. Darüber allerdings, dass sich Farmer von der Bühne zurückziehen wird, wurde immer schon spekuliert, selbst nach ihrer allerersten Tour vor 30 Jahren. Sie selbst ist natürlich klug genug, ein Ende offen zu lassen, zumal eine solche Ankündigung während des Konzertes bei ihrem emotionalisierten Publikum ungeahnte Folgen haben könnte. Ein Satz von ihr gestern nach „Un jour ou l'autre“ allerdings, hat auf den Fanseiten schon wieder Aufregung erzeugt: „Vous êtes ma vie. Vous allez terriblement me manquer.“ [Ihr seid mein Leben. Ich werde Euch sehr vermissen]. Aber ehrlich gesagt, ich glaube nicht an das Ende. Farmer wird kaum die Größe der jetzigen Shows noch übertreffen können. Ein „Zurück“ zu den Wurzeln ist auch nicht möglich, denn ihre Tourneen waren immer spektakulär. Man könnte daher über „neue Wege“ spekulieren, eine Theatertour, wie sie Madonna nächstes Jahr in Europa präsentieren wird, vielleicht. Wer das letzte Album der inzwischen 75jährigen Françoise Hardy hört, könnte sich ein ähnliches Alterswerk auch von Farmer vorstellen. Allerdings ist Hardy kaum jemals live aufgetreten aufgrund ihres Lampenfiebers. Das Großartige an der Show ist, dass sie mit jedem Anschauen noch ein wenig wächst. Gleiche Setliste? Macht nichts. Es gibt so viele Einzelheiten, die man beim ersten Mal sowieso nicht wahrgenommen hat. Das Konzert gestern ging erst spät los. Es war fast 21:20, als endlich die Lichter ausgingen. Im Netz wurde über technische Probleme spekuliert. Aufgefallen ist, dass sich die drei Scheinwerferringe nicht nach unten bewegt haben während des Abends. Ich hatte nach den beiden Auftritten am 11. und 12. mit MartinC diskutiert, der die zweite Hälfte des Konzerts für besser, weil düsterer hält. Und das stimmt auch. Wobei ich eher von drei Teilen sprechen würde als zwei Hälften und die drei Balladen als eigenständig betrachte. Aber der erste Teil bereitet sozusagen auf den Rest vor. Ich finde, dass schon mit „California“ und „M‘Effronde“ die düstere Stimmung eingeführt wird, die den ganzen Teil nach „Innamoramento“ durchzieht. Und welcher Künstler verschiesst schon sein Pulver in der ersten Stunde, wenn er clever ist? So wird geschickt eine Dramaturgie aufgebaut. Einzig „Sentimentale“ verschafft eine kurze Verschnaufpause während der letzten Stunde. Der Termin am 22. Juni wurde ja erst sehr spät angesetzt. Die Halle war trotzdem voll, ich denke sogar bis auf den letzten Platz, soweit ich das von meiner Position aus beurteilen konnte. Und ich vermute, dass sehr viele Fans die Gelegenheit ergriffen haben, so wie ich auch, noch ein zweites oder drittes Konzert mitzunehmen. Die Stimmung war von Anfang an sehr gut, euphotisch; ich war erneut gefühlt der Einzige, der nicht sämtliche Texte kannte. Und auch Mylène war sehr emotional. Ich weiß nicht, in wiefern sie die vielen Fans im schwarz-weiß gestreiften Matrosenlook wahrgenommen hat, aber hunderte, vielleicht sogar tausende Schilder mit „Merci“ während der Balladen waren unübersehbar und schienen sie tief zu rühren. Und die Choräle in der Halle bei „Sans Contrefaçon“, „Désenchantée“ und „Rêver“ hatten auch schon fast den Charakter einer religiösen Zeremonie. „Rêver“ musste Farmer sogar noch einmal abbrechen und das Publikum hat „Désenchantée“ wieder aufgenommen. Ein Gänsehautmoment. Im übrigen muss ich wieder den für Hallenverhältnisse hervorragenden Sound loben. Es war ein perfekter Abschluss für mich, ein perfekter Abschluss der neun Auftritte in der Nanterre Arena. Ich lese derzeit ein kleines Buch von Thomas Bauer, „Die Vereindeutigung der Welt“. Darin beklagt er sich über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt in unserer Kultur, sei es in der Kunst oder nur einfach im Supermarkt um die Ecke. Er schreibt: „Anders als avantgardistische Kunstrichtungen behauptet Popmusik zwar nicht, dass sie die einzig gültige Kunstrichtung und alles andere reaktionär, wertlos und verdammungswürdig sei. Sie ist aber häufig (...) so glatt und voraussetzungslos konsumierbar, dass sie omnipräsent wird und alle anderen, feineren und differenzierteren Stimmen übertönt. So wirkt sie häufig (wie gesagt: nicht immer) keineswegs bereichernd, sondern trägt eher zur Verarmung bei.“ Der Autor beschreibt klug und ziemlich pessimistisch unsere Welt, und was er sagt, trifft sicher auf vieles zu, was tagtäglich im Radio läuft. Aber Künstler wie Mylène Farmer scheinen ihm noch nicht begegnet zu sein.
Meine Fotos muss ich erst in Ruhe sortieren. Aber zwei von gestern stelle ich hier schon mal ein mit der Frage: Sieht so jemand aus, der sich von der Bühne zurückziehen möchte

...