Da das (sehr interessante) Thema ja allgemein formuliert ist, möchte ich gleich ein anderes Beispiel erzählen, das es aber vielleicht ganz gut illustriert.
Es gibt in der populären Gesellschafts/Musikkultur meiner Meinung nach nämlich ein gewisses Phänomen, nämlich eine Art ritualisierter Herdentrieb. Kurz gesagt, ich hatte 2006 semi-freiwillig ein Konzert von Tokio Hotel gesehen. Der Grund war allerdings MelanieC, die ich kürzlich vorher auf ihrer Tour fotografiert hatte und einfach nochmal streßfrei sehen wollte. Es gab damals in Mannheim ein Stadtfest, auf dem die Politik ein kostenloses Festival vor dem Schloss für ihre Untertanen inzenierte, mit einem aberwitzig inhomogenen LIneup. Als wir ankamen, spielte grade Max Mutzke, danach kamen Tokio Hotel und nach denen dann MelanieC. Die Bühne stand im Innenhof des Stadtschlosses und war räumlich natürlich eingeschränkt. Daher gab es Securities am Einlaß, die nur eine begrenzte Zuschauerzahl reingelassen haben. Tatsächlich war er bei Max Mutzke aber noch nicht voll, während sich überall in der Stadt schon die Familien mit Kindern zusammenrotteten. Es war später somit ein Hauen & Stechen zu erwarten, also gingen wir einfach schon mal zu Max Mutzke rein, und wenn man mal drin war, wurde man auch nicht mehr rausgeworfen. Die Idee war, nach dem Mutzke-Auftritt irgendwo hinten Tokio Hotel auszusitzen, und wenn die Kiddies dann alle wieder rausgehen, konnte man für MelanieC ja sogar bequem nach vorne driften... und ich freute mich (auch) auf ein gewisses Beatlemania-Spektakel.
Kurz gesagt: Pfeifendeckel.
Es strömten dann zwar irgendwelche 1000 Leute rein, fast nur Jugendliche und kleine Kinder mit Elternteil(en), aber der Tokio Hotel Auftritt war dann mit das Langweiligste, das ich jemals erleben mußte. Der Sänger machte zwar Show ohne Ende und hüpfte auf der Bühne wie der Duracell-Hase auf Ecstacy, aber bis auf eine Mini-Gruppe von 20-30 Leuten direkt vor der Bühne, die hüpften und mitsangen, blieb der komplette Rest des Publikums nahezu autistisch. Hunderte kleine Mädels und Jungs, die offenbar UNBEDINGT zu diesem Konzert mußten, aber dann noch nicht einmal auf die Bühne schauten! Die liefen mit gelangweiltem Gesicht auf dem Gelände hin und her und schauten sich die Landschaft an. Ihre Eltern schauten meistens länger und interesserter auf das Treiben auf der Bühne als ihr eigener Nachwuchs, und einige beschwerten sich sogar "Nun guckt doch auch mal!!!".
Also - es gibt da einfach gesellschaftliche Rituale. Tokio Hotel war damals für die Kiddies ein "must", zu dem Konzert *mußte* jeder hin. Wenn man da aber dann mal war, war's das auch... die Musik war denen schnuppe, wichtig war die Anwesenheit (der Band auf der Bühne und man selbst davor). Einen echten *Bezug* zu der Musik und zu dem Ereignis und irgendeiner "Magie des Augenblicks" - Fehlanzeige.
Und daher denke ich, daß es mit einigen Künstlern aus dem modernen Schlager- und Volksmusik-Bereich vermutlich einfach ähnlich ist. Zunächst einmal ist der Schlager von seiner Natur her sehr eskapistisch. Die oft zitierte "Heile Welt", wobei der Begriff irreführend ist, denn es geht ja auch um Fehlttritte... "Du hast mich tausendmal belogen" und so...
Es geht also nicht um eine völlig heile Welt, aber um eine völlig geordnete Welt, in der alles so funktioniert "wie man es kennt" und "wie es sein soll", im Gegensatz zu einer als irrational wahrgenommenen aktuellen "echten" Welt. Es gibt Menschen, die über diese Änderungen agressiv werden und beginnen zu handeln, aber die Mehrzahl will wohl einfach nur "ihre Ruhe haben", und da etablieren sich dann Künstlerinnen wie Andrea Berg oder Helene Fischer, die eine große "normale" Fan-Gemeinschaft gewinnen, in der man sich wunderbar normal und geborgen fühlen kann, wenn man einfach "dazugehört". So wie die Kiddies damals zu Tokio Hotel gerannt sind, nicht weil die Band ihnen wirklich etwas *bedeutet* hat, sondern weil man da "dabeisein" mußte. Oder Mitglieder großer Volkskirchen, die häufig im Grunde nicht im geringsten Maße wirklich gläubig sein müssen, aber trotzdem zu Weihnachten und Ostern in die Kirchen gehen, weil sich "das gehört" und sie dadurch "dabei" sind. Oder erinnert ihr Euch noch an die ursprüngliche Kelly Family? Der größte Teil ihrer massiven Fanbase waren traurige Kinder aus nicht so perfekten Familien, die einerseits die Kellys als idealisierte Großfamilie und "sich selbst" (als Gemeinschaft und Ersatzfamilie) definierten. Die haben auch vor den Konzerten auf der Straße übernachtet, und ein Kellys Konzert war ein "must", aber ging es ihnen wirklich um die *Musik* und ihr zuzuhören? Ich denke, wenn man dann mal auf dem Gelände preß zusammenstand, war der Zweck ja erfüllt, die perfekte Familie auf der Bühne, die perfekte Familie um einen herum, und ja... Musik gab es auch noch, das nahm man dann mit, aber die Hauptsache war sie ja eigentlich nicht.
Bei Mylène Farmer ist die Situation fundamental anders. Völlig egal, ob man ihr jetzt einen literarischen/künstlerischen Wert zugesteht (und die überwältigende Zahl auch der studierten Kunst-Leute in Frankreich tun das nun mal), aber ihre Lieder und Inhalte sind definitiv *nicht* geeignet, aus einem verstörenden Alltag eskapistisch auszubrechen... im Gegenteil, wenn es einem vorher gut ging, braucht man bei etlichen Ihrer Lieder gute Nerven, daß das auch so bleibt...
Insofern gibt es vielleicht bei ihr *auch* Zuschauer, die des Spekakels wegen kommen und einfach nur bei "der Show" dabei sein wollen, aber ich denke, die Zahl derer, denen ihre Musik tatsächlich etwas *bedeutet*, ist erheblich größer als bei Sängerinnen wie Berg und Fischer, und daher erlebst Du dann auch ein anderes Verhalten beim Konzert.